Walpurgnisnachtrein

Schon in Goethes Faust wirkmächtig inszeniert, wird das metaphorische Zusammenkommen der Wesen der Unterwelt noch zu diesen Tagen zelebriert. Während in den volkstümlichen Vorstellungen um die Nacht der Hexen und Dämonen hohe Orte wie Gebirge betroffen waren, so sind heute allerlei Orte der völkischen Feierlaune ausgesetzt, besagte Nacht mit Tanz, Feuer und Umtrunk zu bestreiten. Derart feuchtfröhlich wie die Feier der Hexen wahrscheinlich in vorchristlicher Zeit abgehalten wurde, um unter anderem die eigene Fruchtbarkeit mit Feldern zu teilen oder wie die Vorstellung einer Feier der Wesen der Unterwelt sich allgemein ausfantasieren lässt, wenn frivole Hexen auf andere lüsterne Wesen treffen – wie es im Übrigen auch nicht minder auslassend in Faust der Tragödie erster Teil illustriert zu finden ist –, wird es wohl (hoffentlich?) nicht zugehen.

Doch interessant sind die Varianten der heutigen Assoziation mit Hexen. Die meisten werden es wahrscheinlich mit der parallel gesetzten Welt der Hexen und Zauberer verbinden, die sowohl den Buch- als auch Filmmarkt innerhalb des letzten Jahrzehnts zu dominieren scheint. Zahlreiche Kinder, Jugendliche und Erwachsene tragen wahrscheinlich noch immer die sehnsuchtsvolle Fantasie in sich endlich den gesprächigen Brief zu erhalten, der ihnen Zugang zum zauberhaften Zirkel in Form eines Internats gewährt, in dem sie von einer alten, launischen Kopfbedeckung ihrer persönlichkeitsadäquaten Behausung zugewiesen werden, um ihre magischen Fähigkeiten endlich zügeln und mit der Beherrschung dieser ihre übernatürlichen Kompetenzen erweitern zu können. Natürlich passiert das alles fern ab der Welt der nicht magischen Wesen, die von den mystischen Ereignissen geschützt und von ihnen isoliert werden müssen.

Entgegen dieser positiven Bedeutung gibt es natürlich die Zuschreibung als „Hexe“ auch als eine Diffamierung, indem man als bösartig, unansehnlich, gar abscheulich beleidigt wird, was aber im Vergleich zur Zuschreibung „Hexe“ in voraufklärerischen Zeiten noch immer harmlos erscheint. Weit über das Mittelalter hinaus konnte diese Zuschreibung zum Tode führen, da der Beweis erbracht werden musste, dass man jene besagte Zuschreibung nicht tatsächlich exemplifiziert. Das wiederum bedeutete entweder zu sterben oder tatsächlich eine Hexe mit übermenschlichen Fertigkeiten zu sein. So kam es zu diversen Folterinstrumenten wie dem „Hexenstuhl“ oder Tests wie dem altbekannten Scheiterhaufen. Verbrannte man, war man keine Hexe, überlebte die Person, war sie überführt. Ersichtlich, dass die Zahl der Überlebenden konstant bei Null blieb, war es doch für das Volk immer wieder gut einen Sündenbock zu finden, der für allerlei scheinbar Übernatürliches – oder einfach Sachverhalten, die nicht zu erklären waren – das Leben lassen musste.

Auch wenn es heute – zum Glück! – diese Methoden und Scheiterhaufen nicht mehr derart gibt, ist es doch nicht so, dass Menschen nicht nach wie vor Unschuldigen Dinge anlasten, für die sie nichts können. Einige erzürnende Umstände, die von komplexer Natur sind, stören die Ruhe des sittsamen Volkes, das sich nun in seinem fundamental christlichen Lebensstil und seinen
Werten – jener Lebensstil und jene Werte, die scheinbar so stark verinnerlicht wurden, dass sie nicht mehr erkennbar sind – entmachtet sieht. Da die Aufdröselung der komplexen Verhältnisse dem Volke – wer auch immer diese Entität sein mag – verborgen bleibt, ist es umso einfacher die Frage der Schuld einem Opfer zuzuweisen. Das Opfer des unschuldigen Lammes soll nun die bequemen Verhältnisse wiederherstellen und die wankenden Gemüter beruhigen. Allein darin mag der aufmerksame Beobachter nun doch eine Parallele zur christlichen Geschichte entdecken, die in ihrer fast zynischen Ader den Opfernden verborgen bleibt. So möchte man meinen, dass auch heute noch metaphorische Hexenverbrennungen stattfinden, wenn auch nicht auf realen Scheiterhaufen.

Eng beieinander liegt die Bedeutung des Feuers in seiner negativen, destruktiven Variante der positiven, vor allem durch manchen Vorsokratiker geprägten, Bedeutung als Feuer der Erkenntnis. Die langsam glimmende Glut, die erst einmal entfacht, dem Menschen Licht und Wärme bietet in der Erkenntnis und Einsicht in die Verhältnisse der Welt, um den Verstand und die Vernunft zu bedienen, die wiederum den Menschen eigen, sein Spezifikum, seine übernatürliche Macht darbieten. In Goethes Gedicht „Prometheus“ ist es der Halbgott, der sich opfert, um den Menschen das Feuer zu bringen. Jenes Feuer, welches den Menschen so viel bietet und letztlich als Flamme der Erkenntnis den Funken bieten kann über das Menschsein hinauszugehen und das Göttliche im Menschen zu aktualisieren. Im Sinne der Aufklärung also die Potenz bewilligt, – im kantschen Sinne – die eigene Unmündigkeit darnieder zu legen, sich des eigenen Verstandes zu bedienen und somit den Obrigkeiten Opposition aufzeigen zu können.

So lasst uns hoffen, dass die Feier der Hexen fröhlich, doch friedlich verläuft. Dass die heute entzündeten Feuer als Licht in der Nacht zur Freude und Reinigung der geplagten Seelen dienen und nicht als symbolische Opferstätte der bald gefundenen neuen – oder alten– Sündenböcke. Hoffentlich wird auch der folgende Tag ebenso friedlich verlaufen. Auf dass der Tag der fliegenden Steine keine lodernden Fahrzeuge mit sich bringt, keine künftigen
Opferlämmer gebrandmarkt werden und die Glut des Feuers, die leise vor sich hin glimmt, diejenige der Erkenntnis ist, die uns als Mensch auszeichnet.
Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein… hoffentlich.